Die Bundesregierung erließ Ende Mai 2020 § 129 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG). Dieser neue Paragraph soll die Arbeit des Betriebsrats während der Coronapandemie erleichtern. Damit sind nun auch virtuelle Betriebsratssitzungen, Beschlussfassungen und Betriebsversammlungen möglich. Offen ist jedoch, wann genau die Norm anzuwenden ist – vor allem, wenn es um die Wahl des Wahlvorstandes bei einer erstmaligen Betriebsratswahl geht.
Interessenvertretungen beschränkt handlungsfähig
Die Coronapandemie stellte nicht nur Arbeitgeber auf eine harte Probe. Die Beschränkungen beeinträchtigten auch die Arbeit im Betriebsrat. Vor allem sind die Durchführung und Teilnahme an Betriebsratssitzungen schwieriger geworden, da das BetrVG Präsenzsitzungen vorschreibt.
Eine virtuelle Betriebsratssitzung und Beschlussfassung kannte das Gesetz bis dahin nicht. Als Argument gegen virtuelle Sitzungen wurde die Gefahr genannt, dass die Nicht-Öffentlichkeit der Sitzung nicht sichergestellt sei.
Virtuelle Betriebsratssitzungen
Daraufhin beschloss der Gesetzgeber am 18. Juni 2020 den neuen § 129 BetrVG. Dieser gilt rückwirkend ab dem 1. März 2020 und ist zunächst bis zum 31. Dezember 2020 befristet.
Nach dieser Norm ist es möglich, Sitzungen des Betriebsrates und Beschlüsse mittels Video- und Telefonkonferenzen zu halten. Voraussetzung: Es muss sichergestellt sein, dass Dritte von der Sitzung keine Kenntnis erhalten. Die Aufzeichnung ist unzulässig.
Nach Abs. 3 können auch Versammlungen nach §§ 42, 53 und 71 BetrVG durch audiovisuelle Einrichtungen durchgeführt werden. Es muss jedoch dafür gesorgt sein, dass nur teilnahmeberechtigte Personen Kenntnis von dem Inhalt der Versammlungen nehmen können.
129 BetrVG verweist allerdings nicht ausdrücklich auf eine Betriebsversammlung zur Wahl eines Wahlvorstands nach § 17 Abs. 2 BetrVG. Ob die Norm auf solche Betriebsversammlungen angewandt werden kann, ist fraglich.
Wahl des Wahlvorstands
Gibt es in einem Betrieb noch keinen Betriebsrat und soll ein solcher neu gegründet werden, muss zunächst die Belegschaft in einer Betriebsversammlung einen Wahlvorstand nach § 17 Abs. 2 S. 1 BetrVG wählen. Eine solche Wahl hat als Präsenzveranstaltung stattzufinden. Eine virtuelle Wahl des Wahlvorstands wurde bislang in der Literatur abgelehnt.
Gerade zu Beginn der Corona-Pandemie wollten Arbeitnehmer bislang betriebsratsloser Betriebe Betriebsratswahlen initiieren. Wäre § 129 BetrVG nicht auch auf Wahlen nach § 17 Abs. 2 BetrVG anwendbar, wäre die Gründung eines Betriebsrats kaum bzw. nur schwer zu verwirklichen. Denn im Gegensatz zur Betriebsratswahl ist auch bei der Bestellung des Wahlvorstands keine Briefwahl möglich.
Die Belegschaft wäre trotz hoher Infektionsrisiken gezwungen, Präsenzversammlungen zu halten. Besonders während des Lockdowns waren Präsenzversammlungen mehrerer Arbeitnehmer undenkbar. Auch den Arbeitgeber stellten sie vor ein großes Problem im Hinblick auf die Arbeitsschutzbestimmungen.
Wie ist der Meinungsstand in der Literatur?
Der Wortlaut der Norm spricht zunächst dagegen, § 129 BetrVG auf Betriebsversammlungen nach § 17 Abs. 2 BetrVG anzuwenden. Der Gesetzgeber nahm die Betriebsversammlung nach § 17 Abs. 2 S. 1 BetrVG nicht ausdrücklich mit in § 129 BetrVG auf.
Anwendbar ist § 129 Abs. 3 BetrVG auf Versammlungen nach § 42 BetrVG und nicht im Sinne von § 42 BetrVG. Das könnte dafürsprechen, dass eine Betriebsversammlung nach § 17 Abs. 2 S. 1 BetrVG nicht vom Anwendungsbereich der Norm umfasst sein soll und der Gesetzgeber eine virtuelle Wahl des Wahlvorstands nicht wollte.
Die Wahl des Wahlvorstands wäre demnach auch während der Coronapandemie nur in einer Präsenzveranstaltung möglich. Diese Ansicht vertritt zumindest auch bereits teilweise die Literatur. Orientiert man sich nach Sinn und Zweck der Vorschrift, ist eine solche Auslegung allerdings nicht zwingend. Zumindest könnte man eine analoge Anwendung der Vorschrift erwägen.
Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) sollen die Regelungen des BetrVG es möglichst erleichtern, Betriebsräte zu bilden. Daher sind die Vorschriften zum Wahlverfahren, u.a. auch die Vorschriften zur Wahl des Wahlvorstands, so auszulegen, dass die Bildung der Betriebsräte nicht unnötig erschwert wird – u.a. auch die Vorschriften zur Wahl des Wahlvorstands.
Betriebsrat soll handlungs- und beschlussfähig bleiben
Der neue § 129 BetrVG dient vor allem dazu, dass der Betriebsrat handlungs- und beschlussfähig bleibt. Dazu setzt der Gesetzgeber den Grundsatz der persönlichen Anwesenheit außer Kraft.
Gleichzeitig will er vermeiden, dass sich Betriebsratsmitglieder oder Arbeitnehmer der potenziellen Gefahr einer Präsenzversammlung aussetzen müssen – und damit eine Infektion mit dem Coronavirus riskieren.
Doch die Grundsätze einer Wahl dürfen durch eine virtuelle Versammlung nicht ausgehöhlt werden. So scheidet die geheime Wahl bei einer virtuellen Versammlung regelmäßig aus. Die wohl herrschende Ansicht ist vorzuziehen. Diese schließt aus, dass § 129 BetrVG auf eine Betriebsratswahl nach § 14 BetrVG angewendet werden kann.
Wahlvorstand wählen – Wahl muss nicht geheim sein
Dieses Argument kann man allerdings nicht auch für § 17 Abs. 2 BetrVG heranziehen. Die Wahl des Wahlvorstands muss – im Gegensatz zur Wahl des Betriebsrats – nicht geheim sein. Es genügt die einfache Abstimmung aller Anwesenden, z.B. durch Handzeichen.
Einzige formale Voraussetzung der Wahl des Wahlvorstands: Die Nichtöffentlichkeit muss gewahrt werden. Diese Voraussetzung hat die Wahl mit der Betriebsratsversammlung nach § 42 BetrVG ebenso gemein wie mit der Betriebsratssitzung.
Es gibt keine weiteren formalen Anforderungen, die dagegensprächen, § 129 BetrVG auch bei der Wahl des Wahlvorstands anzuwenden. Wenn also Vorkehrungen, dass die Wahl nicht öffentlich erfolgt, dazu führen können, Betriebsratssitzungen und Betriebsversammlungen nach § 42 BetrVG virtuell durchzuführen, müsste das auch für die Wahl des Wahlvorstands gelten. Denn diese stellt dieselben Voraussetzungen an die Durchführbarkeit.
Eine Mindermeinung vertritt allerdings folgende Ansicht: Auch eine an sich nicht geheime Wahl müsse geheim sein, wenn wenigstens ein Arbeitnehmer die Geheimhaltung der Wahl verlangt.
Diese Ansicht überzeugt nicht. Es ist kein Grund ersichtlich, weshalb eine gesetzlich nicht als geheim angeordnete Wahl zu Lasten der übrigen Belegschaft gestellt werden soll – nur, weil ein einzelner Arbeitnehmer das verlangt.
So die aktuelle Rechtsprechung
Bisher sind keine veröffentlichten Entscheidungen zur Frage bekannt, ob § 129 BetrVG auf § 17 Abs. 2 BetrVG anwendbar ist. In einem nicht veröffentlichten Beschluss hat sich allerdings das Arbeitsgericht Freiburg in einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren (Beschluss vom 26. Mai 2020, Aktenzeichen 5 BVGa 2/20) mit dieser Frage beschäftigt.
In diesem Verfahren beantragte der Arbeitgeber, eine Betriebsversammlung zur Wahl eines Wahlvorstands per Videokonferenz zu untersagen. Die Entscheidung erfolgte noch, bevor der neue § 129 BetrVG in Kraft trat. Allerdings setzte sich das Arbeitsgericht in seinen Entscheidungsgründen bereits de lege ferenda mit § 129 BetrVG auseinander. Es lehnte den Erlass einer einstweiligen Verfügung ab.
Für den Erlass einer einstweiligen Verfügung müsse die Wahl an einem erkennbar schweren Mangel leiden. Dieser hätte zur Folge, dass die Wahl nichtig sei – und damit auch die anschließende Betriebsratswahl. Lt. Gericht stelle die Wahl des Wahlvorstands per Videokonferenz keinen schwerwiegenden Mangel dar, die dazu führe, dass die Betriebsratswahl nichtig sei.
Das Arbeitsgericht Freiburg ließ aber mangels Entscheidungserheblichkeit offen, ob die virtuelle Wahl des Wahlvorstandes rechtswidrig sei und die Wahl anfechtbar sein könnte.
Allerdings greift auch das Arbeitsgericht Freiburg teilweise die bereits ausgeführten Ansätze auf: Es hebt hervor, dass es für § 17 Abs. 2 S. 1 BetrVG und § 42 BetrVG keine besonderen Formvorschriften gibt, die eine Präsenzversammlung zwingend erforderlich machten.
Gerichtliche Entscheidung steht noch aus
Auch wenn der Wortlaut des neuen § 129 BetrVG nicht explizit auf § 17 Abs. 2 BetrVG verweist – Sinn und Zweck könnten dafürsprechen, dass die neue Norm auf § 17 Abs. 2 BetrVG anwendbar ist.
Bisher wurde jedoch noch nicht gerichtlich darüber entschieden, ob die neue Norm zumindest analog auf die Wahlen des Wahlvorstands anwendbar ist. Daher ist es bisher nicht möglich, dies rechtssicher einzuschätzen. Sofern der Gesetzgeber erwägt, die Laufzeit der Vorschrift über den 31. Dezember 2020 hinaus zu verlängern, wäre wünschenswert, dies klarzustellen.