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Betrachtet man die rasante Entwicklung von „Legal Tech“ genauer, so stellt man – wenig überraschend – fest, dass sie ihren Ausgang in den USA genommen hat.

Der größte Rechtsmarkt der Welt und der Unternehmergeist des Silicon Valley mit entsprechend viel Venture Capital waren perfekte Voraussetzungen für das Entstehen digitaler und disruptiver Geschäftsmodelle im Bereich der anwaltlichen Dienstleistungen. Oft wird allerdings ein weiterer, ganz entscheidender Grund vergessen: Das dortige Rechtssystem kennt die „Discovery“, die gerichtlich angeordnete Vorlage von Beweismitteln im US-amerikanischen Prozessrecht. 

Ursprung von Legal Tech im US-Prozessrecht

Vor der Verhandlung sind die Parteien in den USA verpflichtet, sämtliche Beweismittel zu benennen, auf die sie später im Verfahren reagieren wollen. Dazu zählen neben Zeugenaussagen auch Unterlagen und Dokumente in Schriftform, sei es auf Papier oder als E-Mails oder Chat-Protokolle. Das Besondere dabei ist, dass ein Kläger auch ohne den Besitz eigener Beweise seine Ansprüche geltend machen kann, wenn er damit rechnen darf, die Beweismittel bei der Gegenseite oder bei Dritten zu finden.

Discovery verpflichtet also beide Seiten, alle relevanten Dokumente vor einer Verhandlung offenzulegen – eine dem kontinentaleuropäischen Recht unbekannte Vorschrift. Angesichts zunehmend elektronisch abgelegter Dokumente, des Schriftverkehrs per E-Mail und der Verbreitung elektronischer Kommunikation liegt es auf der Hand, dass das Suchen nach prozessrelevanten Dokumenten viel schneller, effizienter und kostengünstiger mithilfe von Software geschehen kann. Derartige Software funktioniert hier besser als menschliches Handeln.

Viele Investments in Legal Tech

Weil sich die Rechtsfigur der Discovery besonders zur Digitalisierung von Prozessen des Suchens, Findens und Darstellens von beweismittelfähigen Unterlagen anbietet, stellen Softwarelösungen in diesem Bereich den weitaus größten Anteil an Legal Tech. Die meisten Investments von Wagniskapitalgebern in den USA geschehen dort. Zu E-Discovery finden sich die meisten Einträge in der Datenbank des CodeX Center for Law and Informatics der Stanford Law School.

Die Entwicklung von Legal Technology in Europa muss sich davon schon deshalb unterscheiden, weil es den Markt für E-Discovery hier so nicht gibt. Wohl gibt es Herausforderungen an das Auffinden von Dokumenten in großen Datenmengen, etwa im Kartellrecht.

Weil sich aber das kontinentaleuropäische, kodifizierte Recht napoleonischen Ursprungs vom angelsächsischen common law oder case law unterscheidet und weil es hierzulande ein BGB und Gesetzestexte gibt, während im US/UK-Rechtsraum frühere Präzedenzurteile gefunden und zitiert werden müssen, gibt es keinen globalen Markt für Legal Technology.

Was ist „European Legal Technology“?

Dieser Frage widmet sich die im Dezember 2016 von Baker McKenzie mitgegründete European Legal Technology Association (ELTA). Die erste ELTA Konferenz zu diesem Thema fand am 15. und 16. Juni 2017 in Berlin statt. Über 200 Teilnehmer aus mehr als 20 europäischen Ländern diskutierten die digitale Transformation des Rechtsmarktes, wobei der Schwerpunkt auf Inkubatoren, künstlicher Intelligenz und der Einbettung von Legal Tech in der Rechtsberatung lag.

Während „case law“auf search&find-Technologien setzt, bietet sich aus einer europäischen Perspektive der Blick auf sogenannte Expertensysteme an. Programmierte Entscheidungslogiken können abbilden, wie kodifiziertes (coded!) Recht funktioniert. Wenn man die Entscheidungsbäume mit echten Wahrscheinlichkeiten kombinieren kann, entstehen Vorhersagen über das Ergebnis juristischer Erwägungen.

So kann beispielsweise ein Prozesskostenrisiko mithilfe von Expertensystemen geschätzt werden, wenn die einzelnen Datenpunkte mit echten historischen Daten unterlegt werden. Predictive Analytics als Vorhersage möglicher Ergebnisse oder statistische Wahrscheinlichkeiten anstelle des Bauchgefühls sind konkrete, messbare, bessere Instrumente zur Beratung von Mandanten.

Experten auf Spurensuche

Berichterstatter aus zahlreichen europäischen Ländern schilderten den Stand der Entwicklung in ihrem jeweiligen Land. Keynote-Speaker der Konferenz war Roland Vogl, Direktor des CodeX Center, der selbst in Österreich studiert und promoviert hat, seit mehr als zehn Jahren nun aber in den USA lehrt und forscht (auf dem Bild mit Hariolf Wenzler, CSO Baker McKenzie für Deutschland und Österreich).

Sein Blick eines kontinentaleuropäisch sozialisierten Juristen aus einem angelsächsischen Blickwinkel zeigte die Bandbreite der Themen, um die es in der Folge ging. Gestartet wurde zudem ELTA Connect, eine Datenbank als Plattform für alle am Thema interessierten Akteure – wie Anwaltskanzleien, Firmen, Startups und Einzelpersonen -,  die dort ihre eigenen Profile erstellen und miteinander interagieren können.

Die Konferenz bildete den Auftakt für die Diskussion in Europa, die sich in der Folge auf eine Präzisierung eigener Unterkategorien, auf Angebote in der Aus- und Weiterbildung von Juristen und auf die Verbreitung des Themas in Kanzleien und Unternehmen konzentrieren wird.

Author

Hariolf Wenzler ist Director Business Development, Marketing & Communications (BDMC) für EMEA+ bei Baker & McKenzie