Wir leben in Zeiten raschen Wandels. Die Digitalisierung und Moores Gesetz des exponentiellen Wachstums der Rechnerkapazitäten sorgen dafür, dass wir uns in einem wahren Geschwindigkeitsrausch der Innovation befinden.
„Wir befinden uns auf der zweiten Hälfte des Schachbretts“ – wer das Märchen vom Weizenkorn und dem Schachbrett aus dem alten Persien kennt, weiß wie man exponentielles Wachstum bebildern kann: bereits beim 21. von 64 Feldern des Schachbretts waren es mehr als eine Million Weizenkörner, und es gibt auf der Welt nicht genug Weizen, um zum 64. Feld zu gelangen.
Schneller, immer schneller wachsen auch Daten, verfügbares Wissen und Rechnergeschwindigkeit mit der Folge, dass Quantität in Qualität umschlägt. Der „disruptiven“Wandel ist angebrochen und steht im Gegensatz zum evolutionären Wandel, für rasches Verschwinden von Produkten (Kamera, CD, Buch), entstehen neuer Geschäftsmodellen (AirBnB, Uber) und der Veränderung ganzer Industrien (Automotive).
Statt Disruption: Der innovative Beitrag der kleinen Schritte
Sam Ford und Federico Rodriguez Tarditi argumentieren in der Harvard Business Review, dass es neben den großen Innovationen (neue Produkte, neue Geschäftsmodelle) und den schnellen Entwicklungsschritten (Hackathons, Rapid Prototyping, Plattformen) auch eine andere Art von Innovationen gibt, die langsamer und kleiner im Maßstab sind.
Langsame Innovationsprojekte können langfristig aber ebenso verändernd sein. Allerdings fallen sie in Unternehmen oft durchs Raster der Aufmerksamkeit. Ihr Umfang und Tempo stehen oft im Widerspruch zur allseits verlangten Innovationsgeschwindigkeit, die schnell messbare Ergebnisse erwartet.
Neue Trends für Mandanten im Minutentakt oder langfristige Muster?
In „schnellen“ Unternehmenskulturen wie in Start-Ups sind es die Trendspotter, die mit Hilfe von Echtzeit-Daten aus sozialen Netzwerken stündlich und minütlich Trends erkennen und ihre Verkaufsalgorithmen anpassen. „Schnelle“ Kultur ist eine sofortige Reaktion auf einen neuen Blip auf dem Radar, das Jagen nach Umsatz und Marktanteil, das Aufspüren von Trends, bevor der Markt reagiert.
„Langsame“ Kultur – und in diesem Fall Slow Innovation – ist ebenfalls datenbasiert, setzt aber auf das Erkennen von Mustern, die sich langfristig bewegen und verändern. Slow Innovation konzentriert sich auf Änderungen, deren Muster man erkennen kann, ohne dass das Bestehende sofort gefährdet wäre.
In Anwaltskanzleien ist das beispielsweise die Fähigkeit, Herausforderungen der Digitalisierung aus der Sicht der Mandanten zu verstehen und zu erkennen, wie dies die Arbeitsweise in den Sozietäten verändert. Das geschieht nicht über Nacht.
Unser Geschäftsmodell, eine persönliche Dienstleistung mit individuellen Lösungen auf Honorarbasis abzurechnen, wurde über Jahrzehnte herausgebildet und verfeinert. Es wird uns noch lange erhalten bleiben. Dennoch erkennen wir die Muster der Veränderungen um uns herum und reagieren darauf, indem wir beginnen, neue Beratungsansätze und Service Linien zu entwickeln, unser Geschäftsmodell weiter zu entwickeln und immer mehr Technologie einzusetzen.
Wie durch Innovation aus Bedrohungen Chancen werden
Der große Vorteil der Slow Innovation ist die Vorhersehbarkeit. So wie kluge Zeitungsverlage früh angefangen haben, Digitalisierung nicht als Bedrohung, sondern als Chance zu sehen, in digitale Geschäftsmodelle investiert und trotzdem weiterhin Zeitungen auf Papier gedruckt haben, gab es andere, die trotz der Vorhersehbarkeit der Entwicklung die letzten 15 Jahre nicht genutzt haben.
Ein solcher Transformationsprozess ist kein Sprint, sondern erfordert einen langen Atem, geduldiges und kluges Vorgehen sowie Investieren mit Augenmaß. Die Bereitschaft, unternehmerische Risiken einzugehen, spielt dabei auch eine große Rolle.
Slow Innovation braucht Ausdauer
Slow Innovation bedeutet aber mit der Herausforderung umzugehen, dass die Schritte oft mühsam und die Erfolge erst spät sichtbar sind. Es beginnt damit, dass die Digitalisierung von Arbeitsabläufen beispielsweise voraus setzt, dass Prozesse dokumentiert, standardisiert und nachgehalten werden. In vielen kreativen Berufen, so auch in Anwaltskanzleien, ist das oft nicht der Fall.
Dieser Kulturwandel bedeutet einen Aufwand, Prozesse wie in Industriebetrieben zu identifizieren, aufzuzeichnen und zu optimieren. Gleichzeitig ist diese Kärrnerarbeit die wesentliche Voraussetzung für effiziente Abläufe, für interne Transparenz und für den Einsatz von Technologie.
Viel leichter ist es, sich auf Projekte zu stürzen, die kurzfristig sichtbare, schnelle Ergebnisse liefern und sich gut erzählen lassen. „Wir haben eine neue App entwickelt“ klingt einfach besser als „wir haben unseren Prozess neu aufgestellt und überflüssige Schnittstellen beseitigt“, obwohl der unternehmerische Mehrwert im letzten Fall viel größer sein kann.
Das Muster der Veränderung erkennen
Eine große Herausforderung für Anwaltskanzleien ist zudem das für Slow Innovation erforderliche Erkennen von Mustern der Veränderung. Oft wird mit anekdotischem Wissen gearbeitet und argumentiert, weil Daten fehlen oder nicht genutzt werden. Individuelle Erfahrung wiegt oft schwerer als kollektive Evidenz.
Seismographische Änderungen im Mandantenverhalten können als das Heraufziehen einer neuen Zeit verstanden werden und – jetzt und heute – zum Nachdenken über neue Services und Geschäftsmodelle genutzt werden. Es kann aber auch die Gewohnheit siegen und mit einem „das machen wir immer so“ beantwortet werden. Das hängt auch von der Fähigkeit ab, Muster zu erkennen und Veränderungen anzustoßen.
Slow Innovation ist damit auch eine Voraussetzung, nicht zum Opfer einer disruptiven Veränderung zu werden. Notare werden noch sehr lange Grundstückskäufe beurkunden. Die Blockchain aber ist bereits erfunden. Sich heute nicht mit ihr auseinanderzusetzen und sich nicht auf Veränderungen einzustellen kann bedeuten, irgendwann von der Entwicklung übergangen zu werden. Schweden etwa hat inzwischen bekanntgegeben, die Blockchain-Technologie für Grundbucheintragungen zu verwenden.